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Mein persönliches Utopia (Feature)

Klack. Klack. Klack. Wie Musik verschmelzen die flachen Absätze meiner weißen Go-Go-Boots auf Asphalt mit den sanften Klängen der Beatles, die England bereits im Sturm erobert haben. Auf der Suche nach dem Ursprung der Musik bleibt mein Blick an den großen, weißen Buchstaben der gegenüberliegenden Boutique hängen. „LADY JANE of Carnaby Street“. Offensichtlich ist nicht nur meine Aufmerksamkeit geweckt. Förmlich angezogen von der großen Menschenmenge gebe ich nach und schließe mich den unzähligen Mods um mich herum an, um mir ebenfalls ein Bild des Spektakels zu machen. Ihrem Namen gerecht werdend, ist es dieser Subkultur von Jugendlichen möglich, gegen die veralteten, prüden Ansichten ihrer Eltern anzukämpfen und neu zu definieren, was es heißt,  moderne Briten und Britinnen der 1960er Jahre zu sein. Meine Augen wandernd von wild gemusterten Strumpfhosen bis hin zu den großen Sonnenbrillen auf ihren Nasen, sauge ich förmlich auf, wofür sie stehen. Jugend, Pop-Kultur und allem voran Unabhängigkeit. Einst bekannt für ihre ausschließlich männlichen Anhänger des modernen Jazz und Motorrollern, sind sie nun in den Swinging Sixties angekommen. So vielfältig und bunt wie nie zuvor nutzen sie die Gelegenheit, einen komplett neuen Style zu erschaffen. Ihr sich von der tristen Normalbevölkerung abhebendes Aussehen lässt mich eine Wärme tief in meinem Inneren verspüren. Ein Gefühl von Nostalgie. Endlich gelingt es mir, einen Blick hinweg über die unzähligen Pixie Cuts zu erhaschen. Die Zeit steht für einen fesselnden Augenblick still. Das Innere des Schaufensters bietet mir neue Weiten an Frauenmode. Polyester, Perspex, PVC. Eng an eng, in jeder sich vorstellbaren Farbe. Nicht etwa an kalten, leblosen Körpern von Mannequins, sondern in Szene gesetzt durch die sich frei bewegenden Models. Sich erlösend aus den Engen ihres Rollkragens, bis ihre dünnen Körper nur noch von einem Hauch von Stoff bedeckt sind. Ihre ungebundene, farbenfrohe Existenz einzig in ihrer eigenen, träumerischen Welt. Eine Welt, die plötzlich greifbar nah auf ihr inzwischen prachtvolles Umfeld abfärbt. Die Sommersonne lässt die Farben um mich herum nun noch wärmer erscheinen, als sie ohnehin schon sind und schenkt mir ein angenehmes, fast schon euphorisches Empfinden.

Das Gefühl von Freiheit liegt in der Luft.

Die Freiheit meiner Beine, die dank Mary Quant im kurzen Minirock die Straße entlang spazieren, ohne auch nur einen Gedanken an die Blicke meiner Mitmenschen zu verlieren.

Die Freiheit meiner nackten Arme. Ein warmes Gefühl verspürend durch den funkelnden Sonnenstrahl, welcher an diesem paradiesischen Sommertag wie ein Scheinwerfer auf mich gerichtet ist.

Die Freiheit meines Gewissens. Erfüllt von Liebe, fern von jener Last und Zweifel, die heutzutage auf ihm lägen.

Und auch die Freiheit einer ganzen Generation. Unabhängig von den Vorschriften der letzten Jahrzehnte, einzig und allein darauf bestimmt, im Hier und Jetzt zu leben. Sich mithilfe von Mode, Musik und ihren jugendlichen Stimmen in einer anscheinend neuen Welt durchzusetzen.

Nackte Haut. Für uns in keiner Weise neu oder gar revolutionär. Doch 33 Jahre vor meiner Geburt diente dieser Augenblick als Bildnis eines Umschwungs. Die Befreiung, ausgelöst durch das Abwerfen der Lasten und Einengungen, welche die Menschen zuvor zu erdrücken schienen. Eine Einfachheit, welche sich in einer doch so scheinbar liberaleren Welt als schwerer erweist, als es einmal war. Hier ist alles anders. Sonne, nackte Haut und keinerlei Komplikationen. Ich spüre mich hinwegschweifen, noch immer darum bemüht in den unendlichen Weiten dieser träumerischen Welt zu verweilen, um meinen alltäglichen Problemen zu entgehen. Doch so schnell ich in diese Zeit eintauchen konnte, so schnell spüre ich mich wieder in die Realität zurückgezogen. Die Musik verstummt. Das Langen nach Geborgenheit, nach besseren Zeiten bleibt. Nur fast kann ich den Eindruck gewinnen, ich sei dabei gewesen, als all dies passierte. Sei in der Lage gewesen, alles um mich herum zu sehen, zu hören und sogar zu fühlen. Von der warmen Sonne auf meiner Haut, bis hin zu den Emotionen meines Umfeldes. So nah und doch so fern. Leichtigkeit wird zu Last und ein Blick nach unten reißt mich zurück auf den Boden der Tatsachen.

Plitsch. Platsch. Raus aus dem sonnigen London der Sechziger und wieder zurück im regnerischen Berlin der Gegenwart. Umgeben von Menschen, einzig auf sich allein fokussiert, ohne ein wirkliches Gefühl von Zugehörigkeit. Ihr Anblick lässt mir eine Sache nicht aus dem Kopf gehen. Die Frage, was man mit unserer Generation in 50 Jahren verbinden wird. Es wirkt, als würde sich das Schaffen von etwas Neuem um einiges schwerer erweisen, in einer Welt, in der es doch schon alles gibt. Wofür soll man uns erinnern, in Zeiten, welche uns keine Chance mehr lassen, durch unser Verhalten zu polarisieren, wie es noch zu vorherigen Dekaden der Fall war? Umso einfacher fällt es mir, in dieser Fantasie zu verweilen. Nostalgisch, nicht etwa für die ach so familiären vier Wände meines Kinderzimmers, sondern für eine Zeit lange vor meiner Geburt.

Zugegeben, zurückdenkend an die Sechziger Jahre, befinde ich mich in einer Art Traumwelt, die ausschließlich von den positiven Einflüssen ihrer Epoche geprägt ist. Nicht nur die Leichtigkeit der damaligen Mode und Musik. Auch der Erfolg, als gesamte Generation für etwas erinnert zu werden, das auch noch Jahrzehnte später einen Einfluss darauf hat, wie wir denken. Doch jeder weiß, dass Träume mit ihren grenzenlosen Fantasien nun mal schöner sind als das echte Leben. Und ist es nicht genau das, was Nostalgie auszeichnet? Die Romantisierung einer schon längst vergangenen Zeit, sei es die selbst durchlebte Kindheit oder scheinbar ferne Welten. Schlussendlich langen wir doch alle nach eben dieser besseren Welt, unserem persönlichen Utopia.